„Eine andere Sportpraxis ist möglich“ - Reportage von Tania Napravnik

In der Coverstory des Stadtmagazins Augustin stehen die Athletinnen Liu Jia, Sahar Hashimi und Nicole Ojukwu im Mittelpunkt.

In dieser Reportage stehen drei strukturell benachteiligte Personen im Rampenlicht. Drei Athletinnen aus unterschiedlichen Disziplinen erklären, wie sie es geschafft haben, in einem System hervorzustechen, das gegen sie spricht. Tania Napracnik hat dafür auch bei unserer SPIN Women Konferenz recherchiert, für die sie ebenfalls einen Bericht für uns verfasst hat. Erschienen ist der Artikel im Rahmen eines Augustin-Reportagestipendium.

Text: Tania Napravnik, Fotos: Ulrich Sperl

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Sport ist männlich. „Historisch betrachtet hat sich Sport als männliches Feld seit dem 19. Jahrhundert entwickelt. Seit jeher werden Burschen stärker als Mädchen in den Sport hinein sozialisiert,“ erklärt der Soziologe Otto Penz. Anders ausgedrückt: Sport wird seit Beginn seiner Entstehung vom männlichen Geschlecht in der Ausführung und Organisation dominiert. Ein Blick auf die Gegenwart verdeutlicht dieses Phänomen. 2016 lag der durchschnittliche Frauenanteil in den Entscheidungsgremien der insgesamt 60 österreichischen Sportfachverbänden bei 13%. Das heißt, dass Mädchen und Frauen in den Entscheidungs- und Führungspositionen stark unterrepräsentiert sind. Darüber hinaus zeigt eine EUROBAROMETER-Umfrage aus dem Jahr 2017, dass in Österreich Mädchen im Alter von 14 bis 24 Jahren und Frauen im Alter von 25 bis 39 Jahren 16% weniger Sport wie Burschen bzw. Männer derselben Altersgruppen betreiben. Gabriele Heinisch-Hosek, Bundesministerin für Bildung und Frauen (2014--2016), führt die gegenwärtige Männerdomäne Sport auf die Tatsache zurück, dass Arbeit immer noch ungleich bezahlt wird. Auf einer Konferenz der Arbeiterkammer Wien und des „Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation“ (VIDC) 2021 zum Thema „Ein Hindernislauf - Inklusion und Teilhabe migrantischer Frauen & Mädchen im Sport“ erklärte sie, dass die unbezahlte Sorge-Arbeit von Frauen im Bereich der Freizeit und in der ehrenamtlichen Arbeit in Vereinen und Verbänden sichtbar sei. Dies sich lasse sich an folgenden Fragen aufzeigen: Wer hat welche Zeit für was? Wer engagiert sich freiwillig beim Fußballverein? Frauen hätten aufgrund ihrer häuslichen Verpflichtungen weniger zeitliche Ressourcen als Männer für Sport bzw. Vereinsmitgliedschaften. Insofern spiegle sich die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in der Freizeitorientierung bzw. in den Vereinsaktivitäten wider. Die zeitgenössischen Vereinspraxen und deren Organisationsstruktur orientieren sich oft am Alltag der Männer und geschlechtsspezifischen Zuschreibungen: Kompetitives Training findet an entlegenen Orten am Abend statt. Der Politikwissenschaftler Georg Spitaler bestätigt, dass „die Organisation der Care-Arbeit eine zentrale Herausforderung in Bezug auf die Sportpraxis in Österreich ist. Im „klassischen Fall“ bringen die Mütter die Kinder zum Sport, anstatt selbst Sport zu betreiben.“

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Brillante Sportlerinnen. Angesichts dieser patriarchalen Rahmenbedingungen haben wir hervorragende Athletinnen und Experten interviewt, um herauszuarbeiten wie Sport nachhaltig gestaltet werden kann, ohne Frauen auszuschließen. Penz konstatiert: „Wir müssen verstärkt darüber nachdenken, welche Art von Sportpraxen gefördert gehören und wie das männliche Sportfeld aufgebrochen werden kann. Wenn Sport jedem*r dabei hilft ein gesundes und glückliches Leben zu führen, dann kann von Nachhaltigkeit die Rede sein.“ Für die Interviews haben sich Nicole Ojukwu, Sahar Hashimi und Jia Liu (letztere war auch Teil der Austellung [un]sichtbar - Geschichten migrantischer und nicht-weißer Frauen im Sport) den Ort der Begegnung selbst ausgesucht. Wir begleiteten sie zu ihren Lieblingsplätzen und sprachen mit ihnen über ihren (Sport)alltag.

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Linz. Wir treffen die Ex-Tischtennisprofi Jia an ihrem aktuellen Arbeitsort bei „backaldrin“, ihr Zuständigkeitsbereich ist der chinesische Markt. „In Österreich sind wir nicht gut aufgestellt mit Fördermechanismen für Athlet*innen, damit sie nachhaltig vom Sport leben können. Auch müssten Frauen- und Männerteams gleichwertig gefördert werden, wie das beispielweise in den USA beim Fußball der Fall ist“, unterstreicht Spitaler. Kolleg*innen von Jia lernen wir keine kennen. Im Unternehmen gefällt es ihr recht gut, nur Corona-bedingt sei am Standort weniger los als vor Ausbruch der Pandemie. Nach einem leckeren Frühstück ziehen wir weiter zu ihr nach Hause, wo sie mit ihrem Mann, einer Katze und ihrer Tochter lebt. Hell, gemütlich und modern ist es bei ihr daheim. Ganz anders als bei unserem nächsten Stopp im Olympiazentrum in Linz unweit von ihrer Wohnung entfernt. Die Tischtennishalle wirkt schroff und dunkel, kein einziges Fenster gibt es hier. Lichtblicke stellen lediglich die erfolgreichen Tischtennisspielerinnen dar, die auf großflächigen Plakaten abgebildet sind. „In Asien ist Tischtennis ganz anders aufgezogen. Schon in der Schule trainieren Kinder bis zu drei Mal am Tag. Daher spielen sie auf ganz einem anderen Niveau als in Europa“, referiert Jia. Nach einem kurzen Trainingsmatch treffen wir uns noch mit dem ehemaligen Österreichischer Tischtennis Verband (ÖTTV)-Präsidenten Hans Friedinger auf Café und Kuchen in der Innenstadt. Friedinger berichtet paternalistisch über die Erfolge seiner „Susi“, der österreichische Spitzname von Jia. „Wenn es kein Problembewusstsein über die unsichtbaren Ausschlussmechanismen wie etwas Rassismus oder Sexismus bei den Sport-Funktionär*innen gibt, dann wird sich in Bezug auf (nachhaltige) Frauenförderung nicht viel ändern“, kommentiert Spitaler. Zum Abschluss des Gesprächs erläutert Friedinger stolz, die Zukunftspläne für die Sportförderung in Oberösterreich - eine neue Tischtennishalle soll es bald geben. Wo diese hin gebaut werden soll bzw. wer davon profitiert, erfahren wir nicht.

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Alterlaa. Die Kickboxerin Sahar treffen wir bei ihr zu Hause in Wien 1230. Sie wohnt mit ihrer Familie in einem Gemeindebau am Rande der Stadt. Kaum ist die Türschwelle der Wohnung überschritten, fühlt man sich in eine andere Welt versetzt. Knallige Farben bedecken Wände und Decken, Hundestatuen aus Glas begrüßen eine*m, sowie zahlreiche lachende Gesichter auf engstem Raum. Sahar hat sechs Geschwister, das Jüngste ist erst vor kurzem auf die Welt gekommen. Die Mutter kümmert sich um das Baby und findet nebenher noch Zeit, um Tee und Snacks zu servieren. Der stolze Vater sitzt gelassen abseits des Geschehens und folgt interessiert dem Treiben. Der Vater hat Sahar schon immer unterstützt- ohne ihn hätte sie wohl nie mit Kickboxen angefangen. Doch nicht nur er war wichtig für ihre Motivation Sport zu betreiben, sondern auch ihr Coach und Familienfreund Majid Sobhani. „Er hat mich immer unterstützt, vor allem wenn ich am Ende meiner Kräfte war“, beschreibt Sahar ihren Trainer.

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Kaisermühlen. Das Fußballtalent Nicole treffen wir an einem schönen Frühlingstag beim Trainingsplatz des SV Donau. Sie kommt in Begleitung einer neuen Pressesprecherin, beide scheinen sich in ihren Rollen nicht ganz wohlzufühlen. Nicole ist hier im 22. aufgewachsen, sie wohnt gleich ums Eck. Allerdings ist ihr derzeitiger Lebensmittelpunkt in St. Pölten, sie kommt nur mehr am Wochenende nach Hause. Oft hat sie ein Trainingsprogramm vom Fußballinternat im Gepäck mit dabei, was von den Coaches und dem Betreuungsteam vorgegeben wird. Es gestaltet sich je nach Trainingsphase unterschiedlich schwer bzw. intensiv. Penz holt aus: „Geschlechterdifferenzen stehen immer im Zusammenhang mit anderen sozialen Kategorien, wie etwa Klasse. Daher spielen Bildungsinstitutionen eine wichtige Rolle um genderspezifische Sozialisationsmuster -- Mädchen gehen tanzen, Burschen spielen Fußball -- aufzuweichen. In Kindergärten und (Vor-)Schulen oder aber auch auf öffentlichen Sportplätzen können junge Menschen sportliche Aktivitäten kennen lernen, die nicht dem engen familiären Umfeld entsprechen.“ Falls mal weniger zu tun ist, spielt Nicole gerne im Käfig gegen Erwachsene aus der Gegend. Dort trainiert Nicole seitdem sie klein ist, die Gegner*innen sind seit jeher dieselben geblieben. „Meine Lieblingsgegnerinnen sind allerdings die großen und starken. Von ihnen kann ich am meisten lernen“, erklärt Nicole.

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Mit fünfzehn Jahren von China nach Österreich. Jia wurde auf einem Tischtennis-Sommercamp in Peking von Yan Jun, späterer ÖTTV-Bundestrainer entdeckt. Eine Delegation des österreichischen Tischverbands reiste in den 1990er Jahren öfter nach China zum sportlichen Austausch und auf der Suche nach Talenten, die förderungswürdig schienen. Jia wurde auserwählt. In China hätte sie mit Sport aufgehört, sie wollte keinen Befehlen mehr gehorchen. Zum Abschied erhielt Jia 1000 Dollar von ihren Eltern, die sich ein gutes Leben für ihre Tochter wünschten. Sie selbst waren einfache Arbeiter*innen. „Falls niemand kommt, um dich vom Flughafen abzuholen, dann kauf dir einfach ein Retourticket nach China“, rieten sie der Jugendlichen. „Einstweilen konnte ich damals kein bisschen Deutsch oder Englisch“, lacht die jung Gebliebene und setzt grinsend fort: „an das haben meine Eltern damals nicht gedacht.“ Angekommen in Österreich hatte sie oft Angst- selbst die Straßenbahn erschien ihr eigentümlich. Jia wohnte bei ihrem Vereinschef, mit dem sie Deutsch beim Fernsehen lernte. Sie erklärt schmunzelnd: „Ich war lästig und wollte immer wissen was, was heißt.“ Die Jugendliche verstellte regelmäßig ihre Zimmertür mit Einrichtungsgegenständen, sodass niemand ungefragt in ihren privaten Bereich eindringen konnte. „Einfach alles war fremd und ungewohnt für mich“, erinnert sich die Ex-Spitzensportlerin zurück. Kontakt mit ihren Eltern hielt sie via Telefonzelle. „Das kann man sich heute gar nicht vorstellen, wie das damals alles lief. Ich war einfach froh, dem Sportsystem in China entfliehen zu können. Ich habe mich dort auf dem Internat nicht wohl gefühlt“, konstatiert Jia. Sie erhielt binnen eines Jahres nach ihrer Ankunft in der neuen Heimat die österreichische Staatsbürger*innenschaft. „Durch die Einbürgerung erhalten viele Sportler*innen die Möglichkeit eines „besseren Lebens“ bzw. einer Karriere. Das ist schon seit den 1960er Jahren gängige Praxis im Fußball“, fügt Spitaler hinzu, „diese Verfahren betrachte ich nicht per se als problematisch. Sondern eher, dass die Einbürgerung bei anderen Menschen sehr lange dauert.“ Im internationalen Vergleich hat Österreich strenge Vorgaben bei der Beantragung der Staatsbürger*innenschaft. Es müssen viele Nachweise erbracht werden, unter anderem die monatliche Verfügbarkeit von knapp über 1000 Euro.

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Aus Afghanistan geflüchtet. Sahar kam mit ihrer Familie zunächst in Griechenland an. Auf Rat ihres Vaters begann Sahar dort Gymnastik zu machen, um sich von den Strapazen der Flucht abzulenken. Doch schon bald bemerkte die Familie, dass das nicht das richtige Land für sie war. Die Hashimis zogen weiter nach Österreich, zuerst der Vater, dann der Rest der Familie. „2015/16 haben sich mit der Ankunft zahlreicher Flüchtlinge in Österreich viele Sportvereine für „Neue“ geöffnet. Bzw. sind viele Vereine neu gegründet worden, wie z.B. „Kicken ohne Grenzen“ “, erklärt Spitaler. Angekommen in Wien entdeckte Sahar ihre richtige Leidenschaft. „Mit Kickboxen hat alles angefangen. Im Sport konnte ich meine ganze Wut rauslassen und allen zeigen, dass ich es draufhabe. In Afghanistan haben Frauen nichts zu sagen und werden nicht ernst genommen. Sie machen keinen Sport und hören immer nur auf die Männer. Das war nicht meine Zukunftsvision. Ich wollte Erfolge feiern als Sportlerin.“

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In Österreich geboren. Die Mittelfeldspielerin Nicole ist siebzehn Jahre alt. Zum Fußball kam sie über ihren älteren Bruder. Der kam oft grinsend vom Training heim, da sei sie neugierig geworden. Begonnen hat sie mit zarten fünf Jahren beim SV Donau, mittlerweile geht sie in das niederösterreichische Sport-Leistungszentrum des Österreichischen Fußballbunds (ÖFB) zur Schule. Dort soll der Weg für Talente zur Profikarriere geebnet werden. Die Aufnahmeprüfung besteht aus mehreren Teilen, wo Mädchen ihr fußballerisches Können und psychische Belastbarkeit unter Beweis stellen müssen. Aufgenommen werden dort nur wenige. Für das Schuljahr 2022/23 konnten sich 27 Mädchen gegen 53 Bewerberinnen durchsetzen. Nicole stellte sich diesen Herausforderungen -- motiviert war sie vor allem wegen ihrer Mama, die ihr größter Fan ist. Von ihrem Vater weiß sie wenig, nur dass er derzeit in Nigeria sei. Dort wird schon seit 1937 Frauenfußball gespielt. Damals war dieser Sport für Frauen in Europa vielerorts noch tabu. In Deutschland und Österreich wurde erst in den 1970er Jahren das während der NS-Zeit errichtete Frauenfußballverbot aufgehoben. 2017 hat sich das österreichische Frauennationalteam für die Europameisterschaft erstmalig qualifiziert. Hingegen sind die Nigerianerinnen schon seit langem erfolgreich: Sie haben bereits elf Titel beim Afrikanischen Nationen-Pokal gewonnen.

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Die größten Erfolge. 1:0. Nicole möchte später einmal im Ausland spielen und Stammspielerin im A-Nationalteam sein. „In Österreich kann man de facto nicht als Profifußballerin überleben“, fügt Spitaler hinzu. Die Jugendliche hat zahlreiche ausländische Vorbilder, unter anderem Sakina Karchaoui, die bei Paris Saint-Germain FC spielt. „Sie ist einfach schneller als alle anderen und sticht immer heraus“, erklärt Nicole. Ab Sommer beginnt sie für den First Vienna FC zu spielen. Darauf freut sie sich schon. Darüber hinaus möchte sie in das u19-Nationalteam aufgenommen werden, für die u17 schoss sie das Führungstor gegen Deutschland in der EM-Qualifikation. Jedoch war der weitere Spielverlauf unglücklich, Österreich verlor das Match und konnte sich nicht für die EM qualifizieren. „Wir sind einfach nervös geworden“, kommentiert Nicole die Niederlage. Dennoch war der Nationalteam-Einsatz prägend für sie. „Das war schon etwas Besonderes. Am Anfang war ich zwar aufgeregt, aber sobald ich am Feld war, war eh alles wie immer“, schwelgt Nicole nostalgisch in Erinnerungen.

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Einzelkämpferin. Sahar ist mehrfache österreichische Staatsmeisterin in Kickboxen. Für sie kam Teamsport nie in Frage. Sahar hat mehrmals den Verein gewechselt. Erfolgreich wurde sie bei T. Fighting Gym, dessen Vereinsmotto lautet „train hard – fight fair“.  Sie hat an Wettkämpfe von ,,fight night“ teilgenommen in der Disziplin K-1. In ihrer Paradedisziplin sind neben lowkicks auch Kniestösse zum Kopf und Körper der Gegner*innen erlaubt, zudem werden die jeweiligen Schläge mit verschiedenen Punkten bewertet. Das heißt, die höchste Punkteanzahl entscheidet einen Wettkampf oder das knock out einer Gegnerin. Abseits ihrer eigenen Erfolge ist es Sahar auch wichtig, ihr sportliches Wissen weiter zu vermitteln, vor allem an andere Afghaninnen. Für diese Zielgruppe hält sie Workshops. „Viele haben zu mir gesagt: Du kannst das nicht, du bist ein Mädchen. Oder: Hör auf dich zu verletzen. Ich habe mir aber nie etwas sagen lassen und bin meinen eigenen Weg gegangen. Dieses Selbstbewusstsein möchte ich an andere weitergeben“, erklärt Sahar. Gegenwärtig muss sie sich auf die Schule und ihren Job als Bürokraft in einer Fahrschule konzentrieren, zum Trainieren fehlt ihr daher die Zeit. Außerdem ist ihr Sport teuer, weil die Ausrüstung wie z.B. Zahnschutz, Schienbeinschoner, Handschuhe selbst besorgt werden müsse. Im Kampfsport ist eine vollständige Ausrüstung wichtig, sonst dürfe man nicht an Wettbewerb teilnehmen. „Bald möchte ich wieder beginnen zu trainieren. Ich weiß noch nicht wann genau, aber es gibt noch ein paar Medaillen, die ich mir holen möchte. Derzeit mache ich nur ein bisschen Fitness. Aber das ist auch ok, nach dem vielen harten Training tut meinem Körper Ruhe gut. Außerdem bin ich mittlerweile weniger wütend als während und kurz nach meiner Flucht“, erklärt Sahar.

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Dabei sein ist alles. Jia war insgesamt schon sechs Mal bei Olympia. Sie erinnert sich an jedes einzige Mal zurück, als wäre es gestern gewesen. Vor allem an jenes Olympia in Rio de Janeiro 2016, wo sie die österreichische Fahne trug. Damit ging ihr ein Traum in Erfüllung.  „Jedes Olympia war ein besonderes Erlebnis“, erklärt Jia. Leider habe sie eine Olympia-Allergie- zur Medaille hat es nie gereicht. Bei den letzten Olympischen Spielen hatte sie mit ihren Bandscheiben zu kämpfen. „Siegen ist immer einfacher als verlieren. Dann denkt man nicht weiter über das Spiel nach, aber wenn ich verliere, dann lässt mich das Spiel nicht los“, sagt Jia demütig. Die Europameisterschaften liegen ihr mehr, 2005 wurde sie europäische Meisterin. Das Tischtennis-Ass fügt grinsend hinzu: „Ich habe während meiner Karriere viele Angebote aus dem Ausland bekommen. Aber hier hat es mir immer gut gefallen, ich wollte nie weg. Wahrscheinlich bin ich zu gemütlich, zu österreichisch- ein treuer Hund, sozusagen. Hier habe ich gute Kontakte im Verband und mit der Presse. Wer weiß, ob ich dieses Netzwerk woanders aufbauen hätte können.“ Trotz ihres Netzwerks fehlen die Zuschauende bei den Wettkämpfen. „Ich bin zwar keine Feministin, aber es ist schon erstaunlich, dass die Hallen bei europäischen Frauentischtennisbewerben einfach leer sind. Bei den Wettbewerben der Männer ist das Publikum vor Ort und Stelle“, erklärt Jia.

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Gleichstellung. „Frauen waren die längste Zeit von sportlichen Aktivitäten ausgeschlossen. Sie werden nur zunehmend in diese männliche Domäne miteinbezogen, ohne das Grundsystem in Fragen zu stellen. Daher müssen Mädchen und Frauen extra gefördert werden,“ sagt Penz. Zudem zeigt eine Studie des österreichischen Sportministeriums aus dem Jahr 2016, dass unter Mädchen und Frauen eine Nachfrage nach kaum wettkampf-bzw. leistungsorientierten Bewegungsformen besteht. Von dieser Zielgruppe werden oft Angebote nachgefragt, die exklusiv für Frauen offenstehen. Weiters wünschen sich viele Mütter Vormittagsstunden zur Sportausübung, während ihre Kinder woanders untergebracht sind. Allerdings nützen derzeit viele Vereine Sportstätten von Schulen, die ihnen tagsüber nicht zur Verfügung gestellt werden. Auch werden Trainingsstätten in aller Regel am Stadtrand errichtet, weil dort mehr Platz ist und die Grundstücke billiger sind. Um mehr Frauen in den Sport zu holen, müssten genderspezifische Angebote gesetzt werden. Auch will der Allgemeine Sportverband Österreichs (ASVÖ), der zu den drei Sportdachverbänden Österreichs gehört den Frauenanteil der nationalen Vereine in den kommenden Jahren deutlich erhöhen. Als Sportdachverband versucht er vor allem die Personen der Mitgliedsvereine bzgl. Frauenförderung zu sensibilisieren und unterstützen. Er verfolgt dafür zwei Ansätze: Erstens soll in jedem Landesverband ein*e Ansprechpartner*in (Multiplikator*in) im Bereich Gender-Equality vorhanden sein. Manuela Fally, Leiterin des Breiten- und Gesundheitssport beim ASVÖ Steiermark erklärt: „Wir versuchen im Verband als Vorbild voranzugehen - durch interne Sensibilisierungsmaßnahmen konnte der Anteil an Frauen in Leitungsgremien auf Bundes- wie auf Länderebene in den letzten Jahren bereits erhöht werden. So war beispielsweise von 18 Personen im Präsidium auf Bundesebene im Jahr 2020 nur eine einzige weiblich, mittlerweile sind es immerhin 4.“ Zweitens gelang es 2021/202 das neue Projekt ASVÖ – aktiv.feminin.vernetzt. ins Leben zu rufen. Im Zuge dessen sollen diverse Gremienarbeiten in Vereinen insbesondere Frauen „schmackhaft“ gemacht werden. Ob diese Maßnahme Früchte trägt, wird sich erst nach einer längeren Laufzeit zeigen.

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Weitere Herausforderungen. „Beim Kickboxen ist es wichtig, dass du keine Angst vor der direkten Konfrontation hast. Ich habe oft schrecklich ausgesehen nach einem Training bzw. Wettkampf. Aber es war immer egal. Es war mir auch immer egal, was andere über mich denken“, erzählt Sahar. Trainiert habe sie meistens mit gleichaltrigen Jungs, sogar mit ihrem Bruder. Der Gender-Mix habe sie nie gestört, ihr Körper war auch immer voll bedeckt beim Training- egal zu welcher Jahreszeit. Das Kopftuch trage sie seit ihrem Aufenthalt in Athen nicht mehr. „Das war eine unbewusste Entscheidung. Mein Glaube hat mir aber immer geholfen, um erfolgreich im Sport zu sein. Ich habe immer gewusst, dass Gott da ist. Er gibt mir Kraft für anstrengende Trainings “, resümiert Sahar. Auch Nicole hat in ihrer frühen Kindheit immer mit Jungs trainiert. Aber mit elf Jahren sei das Training seriöser geworden, sie begann mit Mädchen zu trainieren. „Es war schon eine Umstellung. Frauen ticken schon anders als Männer- sie halten mehr zusammen“, erklärt Nicole. Im Fußball sei es, aber prinzipiell eine große Herausforderung als Team zusammen zu wachsen. Daher ist Nicole froh, dass eine Psychologin für das teambuilding zuständig ist und regelmäßig Gespräche als auch Übungen mit der Gruppe durchführt. Jia erklärt lachend: „Nur für Fußball und Ski gibt es Geld in Österreich. Beim Tischtennis haben wir nicht mal einen Masseur, der uns zur Verfügung steht. Wir müssen uns um fast alles selbst kümmern.“

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Träume. Sahar spricht vier Sprachen und will nach der Matura studieren, vielleicht irgendetwas mit Marketing. Die Kickboxerin denkt nicht daran, dass sie einmal vom Sport leben wird können. Sport bleibe aber immer wichtig für sie, er habe sie sehr geprägt. Für Nicole dreht sich alles um Fußball. Sie will Karriere machen und für dieses Ziel wird sie alles tun, um es zu erreichen. Jia kümmert sich mittlerweile viel um sportorganisatorische Angelegenheiten. Sie sicherte sich heuer zum 22. Mal den Frauen-Tischtennis-Meisterinnentitel und beendete damit ihre Karriere. Seit jeher leitet Jia das neue ÖTTV-Girls Winning Project und debütierte als Trainerin, obwohl das ein undankbarer Job sei. „Du verdienst kaum etwas, bekommst wenig Anerkennung und bist die ganze Zeit unterwegs“, erklärt die Topspielerin. Allerdings „ist die Idee, Frauen nach Beendigung ihrer aktiven Karriere durch Jobangebote an die Vereine zu binden, progressiv“, meint Spitaler.

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Die Zukunft des Sports. Ohne eine Sportkultur, die sich über gesellschaftliche Ungleichheiten bewusst ist, bleiben traditionelle Rollenzuschreibungen bzw. Ordnungsmuster, wie etwa patriarchale Geschlechterhierarchien in Vereinen und anderen Sportplätzen am Leben: „Mädchen sollten im Speziellen schon im frühen Alter erfahren, wie Sport dem Körper guttut und Spaß macht“, erklärt Penz. Auch sind systemimmanente Unterscheidungsmerkmale strukturell entscheidend, wer, wie zu welchem Sport kommt, aber engagierte Coaches und Betreuungsteams können diesen Tendenzen entgegentreten. Prinzipiell sind Bezugspersonen wichtig, um Sportlerinnen nachhaltig im Schulsystem als auch im Verein zu stützen bzw. zu erhalten. „Bei der Schulsportförderung ist nur aufzupassen, dass es nicht zu einem Mittelstandphänomen wird. Es muss darauf geachtet werden, dass man auch jene Kinder erwischt, die nicht im Bildungsbürger*innentum verortbar sind“, wendet Spitaler ein. Darüber hinaus, tragen role models zur Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen im Sport bei und dienen dazu, dass Frauen und Mädchen Angst vor bestimmten Sportarten verlieren. In Hinblick auf Geschlechtergleichstellung bezweifelt Spitaler allerdings die trickle down-Effekte durch die Vorbildwirkungen einzelner Sportlerinnen. Viel wichtiger seien grassroots-Organisationen und deren inklusive Ansätze – wie etwa „Kicken ohne Grenzen“ -- sodass Sport gleichberechtigter als bisher gestaltet werden kann, resümiert der Politikwissenschafter. Zudem sei zu hoher Druck auf Athletinnen -- wie im Leistungs- bzw. Spitzensport üblich – nicht der beste Weg, um den Nachwuchs zu fördern, konstatiert Jia. „Topsportlerin“ müsse ihre Tochter nicht werden. Auch Penz hält wenig vom Leistungs- bzw. Spitzensport, dieser zerstöre Körper und Umwelt: „Wollen wir einen durchkapitalisierten „Zuschauer*innen-Sport“ mit all seinen negativen Erscheinungen -- angefangen bei Korruption über Doping bis hin zur Errichtung von Spielstätten unter menschenrechtswidrigen Bedingungen, die nie wieder verwendet werden -- fördern? Das hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun.“ Spitaler stimmt dieser Ansicht zu: „Jener Sport, der alles dem Leistungsgedanken binär unterordnet, egal ob Körper oder Natur, ist weder sozial noch ökologisch nachhaltig. Die positiven Aspekte vom Sport – wie etwa Empowerment durch teambuilding oder Selbstverteidigung – gehen hierbei unter.“ Kurzum, eine diverse und nachhaltige Sportpraxis ist eine aktive Entscheidung, die auf unterschiedlichen Ebenen eingefordert werden kann, um sozial-ökologische Transformationen zu ermöglichen.

Herzlichen Dank an den Augustin für die Veröffentlichung dieses ausführlichen und wertvollen Berichts!

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